Sachverständigenbeweis

Der Sachverständige als „Schlüsselfigur“ des Bauprozesses

Ein Bauprozess ohne Sachverständigengutachten – in der Baurechtspraxis kaum vorstellbar, weder für den Anwalt noch für den Richter. Wie der Baurechtsanwalt, der zur Vorbereitung eines Bauprozesses auf die Unterstützung eines Sachverständigen zurückgreift – sei es durch Einschaltung eines Privatgutachters und/oder durch Einleitung eines selbständigen Beweisverfahrens -, stützt der im Baurecht tätige Richter seine Entscheidung ganz oder teilweise auf die „Feststellungen“ eines von ihm eigens beauftragten Sachverständigen.

Der Einfluss des Sachverständigen beschränkt sich dabei allerdings keineswegs auf eine reine Unterstützungshandlung der – dem Richter obliegenden – Entscheidung des Bauprozesses. Der Einfluss des Sachverständigen geht weit darüber hinaus und wirkt sich auf vielfältige, nachfolgend im Einzelnen aufgezeigte Weise auch auf das Ergebnis des Bauprozesses aus. Deshalb ist der Sachverständige zwischenzeitlich zur „Schlüsselfigur“1 des Bauprozesses avanciert. Die Kurzformel „verlorene Gutachten sind verlorene Prozesse“2 spiegelt deshalb die Rechtswirklichkeit des deutschen Bauprozesses wieder, die Ausgangspunkt und Anlass dieser Darstellung zum Sachverständigenbeweis im Bauprozess ist.

Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll dem Sachverständigen lediglich die Rolle eines „Gehilfen“3 des Richters zukommen. Einmal abgesehen davon, dass reale Einfluss des Sachverständigen weit über eine Hilfsfunktion hinaus geht, begegnet der Begriff auch in anderer Hinsicht Bedenken:

  • Nach der normativen Ausgestaltung des Zivilprozesses unterscheidet sich die Funktion des Gerichts bzw. des Richters von der des Sachverständigen wesentlich. Nach der ZPO hat der Gerichtssachverständige lediglich die Aufgabe, dem Gericht bzw. dem Richter das für die Entscheidung erforderliche Fachwissen zur Beurteilung von Tatsachen sowie das Wissen z. B. um branchenspezifische Handelsbräuche oder sonstige in bestimmten Verkehrskreisen bestehende Üblichkeiten zu vermitteln und ggf. zu erläutern. Insofern ist die Aufgabe des Sachverständigen darauf beschränkt, das sachunkundige Gericht bei der Feststellung und Beurteilung von Tatsachen mit seiner Sachkunde zu unterstützen. Nur insoweit hat der Sachverständige das Gericht bei der von ihm zu treffenden Entscheidung zu unterstützen. Soweit der Begriff des „Gehilfen“ eine Gleichartigkeit der Aufgaben bzw. eine Unterstützungs- bzw. Mitwirkungshandlung des Sachverständigen bei der Entscheidung des Rechtsstreits suggeriert, ist der Begriff des „Gehilfen“ insofern zumindest missverständlich.
  • Insofern könnte der enorme Einfluss des Sachverständigen bzw. die Tatsache, dass dieser mittlerweise „Schlüsselfigur“ des Bauprozesses ist, nicht zuletzt auf den – u.a. vom Bundesverfasssungsgericht verwendeten – „Gehilfen“-Begriff zurückzuführen sein. Das Bild vom Sachverständigen als „Gehilfen“ stimmt nämlich, wenn es jemals gestimmt hat, schon lange nicht mehr – ebenso wenig wie der Vergleich des Sachverständigen mit einem „Auge“, das vom Richter – dem „Gehirn“4, um im Bild zu bleiben – gelenkt bzw. geführt wird.

Der Streit um die Rollenverteilung zwischen Gericht bzw. Richter und Sachverständigem schwelt schon lange. Schon in den 50er Jahren hatte der Bundesgerichtshof kritisiert, dass es ein „häufig vorkommender Verfahrensfehler“ sei, dass der Richter den Sachverständigen „kurzerhand nach dem Ergebnis seiner Beurteilung“ frage. Dieser Verfahrensfehler gehe nicht selten in einen sachlich-rechtlichen Fehler über, wenn der Richter nämlich lediglich feststelle, zu welchem Ergebnis der Sachverständige gekommen ist, ohne jedoch zu sagen, ob und inwieweit sich das Gericht dieses Ergebnis zu Eigen mache, und vor allem auch warum. Denn: Der Richter darf sich die fachliche Entscheidung nicht einfach von einem Sachverständigen abnehmen lassen.5

Der verfahrensrechtliche Ausgangspunkt der Streitfrage um die Rolle des Sachverständigen liegt darin, dass der Richter „zu einem eigenen Urteil auch in schwierigen Fachfragen verpflichtet“ ist.6 Auch über schwierige Fachfragen habe der Richter nämlich die Entscheidung „selbst zu erarbeiten“ und ihre Begründung „selbst zu durchdenken“. Der Richter darf sich dabei vom Sachverständigen lediglich helfen lassen. „Je weniger sich der Richter auf die bloße Autorität des Sachverständigen verlässt“, so die – auch heute noch gültige – Erkenntnis des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1955, „je mehr er den Sachverständigen nötigt, ihn – den Richter – über allgemeine Erfahrungen zu belehren und mit möglichst gemeinverständlichen Gründen zu überzeugen, desto vollkommener erfüllen beide ihre verfahrensrechtlicher Aufgabe“.7

Der tatsächliche Einfluss des gerichtlich bestellten Sachverständigen bzw. des von diesem erstellten Sachverständigengutachtens wird von den Beteiligten häufig gar nicht wahrgenommen. Die Wahrnehmung würde nämlich voraussetzen, dass die – über die eigentlichen Feststellungen hinaus gehenden – Elemente bzw. Einflussfaktoren eines Sachverständigengutachtens, die in ihrer Gesamtheit hier als „trojanisches Pferd“ des Bauprozesses bezeichnet werden, als solche erkannt werden. Geschieht dies nicht, geht der Einfluss des Sachverständigen bzw. des von ihm erstellten Gutachtens unmerklich über eine rein unterstützende, vom „Gehirn“ geführte und gewollte Beeinflussung (richterlicher Entscheidungsfindung) weit hinaus. Letztlich würde die Nichtbeachtung sachverständiger Einflussnahme dazu führen, dass – um im Bild zu bleiben – die im „trojanischen Pferd“ verdeckten Elemente die Oberhand gewinnen, der vermeintliche „Gehilfe“ – ob gewollt oder ungewollt die Führung übernimmt.

Vor dem Hintergrund der in diesem Buch aufgezeigten Erfahrungen und Erkenntnisse ist es nicht nur aus der – hier im Vordergrund stehenden – anwaltlichen Sicht bzw. Sicht der Parteien eines Rechtsstreits, sondern auch aus richterlicher Sicht prozessökonomischer, wenn ein Sachverständigengutachten erst dann eingeholt wird, nachdem die Anknüpfungstatsachen herausgearbeitet sind und zudem Art und Umfang der vom Sachverständigen ggf. festzustellenden Tatsachen (Befundtatsachen) einer juristischen Bewertung unterzogen sind. Eine solche – der Zivilprozessordnung (ZPO) entsprechende – Vorgehensweise würde nicht nur den Parteien, sondern auch den Sachverständigen helfen, die mit den Fragestellungen, die vielfach an sie herangetragen werden, überfordert sind. Zudem könnte hierdurch vermieden werden, dass sich Sachverständige mit der – häufig geradezu hilflos wirkenden – Beantwortung viel zu weitgehender Fragen der Besorgnis der Befangenheit aussetzen und sich wegen unnötiger Kosten im Rahmen der Kostenfestsetzung rechtfertigen müssen.

Ein sachgerechter, d.h. vor allem zielgerichteter Einsatz des Sachverständigen hätte schließlich auch Auswirkungen auf die Akzeptanz des staatlichen Bauprozesses, der in den vergangenen Jahren bei den am Bau Beteiligten immer mehr in Verruf geraten ist. Reformbestrebungen müssten allerdings an der Rechtswirklichkeit ansetzen. Denn die Zivilprozessordnung enthält bereits alle Instrumente, um einen Bauprozess effektiv und ökonomisch zu führen und diesen zeitnah entscheiden und beenden zu können.

Ob diese Problematik deshalb durch eine Änderung der ZPO nachhaltig geändert werden kann, mag bezweifelt werden, zumal sämtliche bisherigen Bestrebungen vergangener Legislaturperioden, den Bauprozess zu reformieren, letztlich gescheitert sind. Insofern verwundert es nicht, wenn die am Bau Beteiligten immer mehr auf nichtstaatliche Entscheider bzw. Streitschlichter ausweichen, sei es in Form von Schiedsgerichten oder Schiedsgutachten, Schlichtung oder Mediation.

Zu den wesentlichen Ursachen der hier konstatierten Fehlentwicklung der deutschen Bauprozesswirklichkeit zählt vor allem der Umgang staatlicher Gerichte mit „ihren“ Sachverständigen – ein Umgang, der bereits nach geltendem Recht keine Rechtsgrundlage findet. Denn die Bedeutung, die den gerichtlich bestellten Sachverständigen von den Baukammern und -senaten beimessen wird, deren faktische Dominanz, entspricht weder dem Bild vom „Gehilfen“ und schon gar nicht der Konstruktion des Sachverständigengutachtens als reines „Beweismittel“.

Der Sachverständige nach der ZPO

Nach der Zivilprozessordnung muss und darf sich ein Gericht der Mithilfe eines sachkundigen Dritten bedienen, wenn und soweit es sich um streitige und entscheidungserhebliche Tatsachen handelt und die Beantwortung der Beweisfrage besonderer Sachkunde bedarf, über die das Gericht nicht selbst verfügt.

Insofern müssen zunächst die Anknüpfungstatsachen herausgearbeitet und die dem Sachverständigen vorzulegenden Beweisfragen exakt und verständlich formuliert sein. Erst wenn das Gericht diese Vorarbeit erbracht hat, die ohne vertiefte relationstechnische Kenntnisse und Erfahrungen nicht möglich ist, kann und darf der Sachverständige beauftragt werden. Wenn der Sachverständige dann die – aus Sicht des Gerichts – entscheidungserheblichen Beweisfragen auf der Grundlage der vom Gericht vorgegebenen Anknüpfungstatsachen beantwortet, spricht wenig dagegen, wenn sich das Gericht anschließend im Ergebnis den „überzeugenden und widerspruchsfreien Ausführungen des Sachverständigen“, d.h. den von diesem festgestellten Befundtatsachen, anschließt.

Allerdings muss das Gericht, will es ein Sachverständigengutachten verwerten, nicht nur die Sachkunde des Sachverständigen, sondern auch die Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit des Gutachtens konkret prüfen. Damit tun sich Gerichte bekanntlich schwer, zumal ihnen – insbesondere im Bauprozess – häufig die fachlichen Kenntnisse fehlen. Denn insbesondere in Fällen, in denen das Gericht von den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen abweichen will, muss es diese Abweichung begründen und dabei erkennen lassen, dass die Beurteilung nicht von einem Mangel an Sachkunde geprägt ist. Diese Hürde, die das Gesetz vor allem bei Abweichungen von den Feststellungen eines gerichtlichen Sachverständigen dem Gericht auferlegt, führt in der Baurechtspraxis dazu, dass Sachverständigengutachten häufig ohne Prüfung von Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit übernommen werden.

Zwar ist die Überprüfung der Feststellungen bzw. Bewertungen eines Bausachverständigen zu rein bautechnischen Fragen für ein Gericht häufig kaum, bisweilen gar nicht möglich. Gleichwohl gilt: Ob es sich tatsächlich um reine bautechnische Feststellungen handelt oder um darüber hinaus gehende Feststellungen bzw. gar ungeprüfte Annahmen des Sachverständigen, muss das Gericht sorgfältig überprüfen. Dies gilt insbesondere dann, wenn dem noch unerfahrenen Einzelrichter oder dem in Bausachen unerfahrenen Spruchorgan ein versierter Baufachmann, ein „alter Hause“ als Sachverständiger gegenübersteht, dessen Sprache mehr baujuristische Fachbegriffe aufweist als dies für die Entscheidungsfindung geboten bzw. sinnvoll ist.

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  1. Werner/Pastor, Der Bauprozess, 13. Aufl. 2011, Rn. 3106. ↩︎
  2. Quack, BauR 1993, 161; Prof. Dr. Quack war Richter an dem für Bausachen zuständigen VII. Zivilsenat des BGH. ↩︎
  3. Vgl. BVerfG vom 05.05.1987, NJW 1987, 2500 („Helfer“). ↩︎
  4. Karl Peters (zitiert nach Gepperd, JURA 1993, 249). Nach Karl Peters ist der Sachverständige das „erweiterte Gehirn des Richters“, während lediglich der Zeuge das „Auge“ darstellt. ↩︎
  5. BGH, Urteil vom 26.04.1955, NJW 1955, 1642 = BGHSt 8, 113. ↩︎
  6. Ebd. ↩︎
  7. BGH, Urteil vom 26.04.1955, NJW 1955, 1642 = BGHSt 8, 113; dies werde sowohl von Gerichten wie auch besonders von Sachverständigen leider „oft verkannt“, so der BGH in dieser Entscheidung. ↩︎